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22. November 2007. Analysen: Südasien - Geschichte & Religion Die pakistanische Missionsbewegung Da'wat-e Islami

Die Barelwi Antwort auf die missionarischen Bemühungen der Tablighi Jama'at?

Die 1981 in Karachi, Pakistan, begründete Missionsbewegung Da'wat-e Islami (Islamische Mission) kopiert in mehrfacher Hinsicht die Tablighi Jama'at (Missionarische Bewegung), die ihren Hauptsitz im indischen Delhi hat. Die beiden miteinander rivalisierenden neu-religiösen sunnitischen Bewegungen sind auch in Deutschland aktiv.

Reform-Islam (islahi) aus Südasien

Ende des 19. Jahrhunderts entstehen, nach von Enttäuschungen geprägten Erfahrungen mit der britisch-christlichen Kolonialmacht, diverse islamische Reformbewegungen in Nordindien, unter anderem um die gefühlte Schwäche der Muslime und den Niedergang ihrer politischen Herrschaft religiös zu kompensieren. Die puristische Reformbewegung von Deoband, benannt nach dem gleichnamigen Ort des 1867 gegründeten Seminars (Dar al-'Ulum), beispielsweise bemüht sich, den südasiatischen Islam von angeblichen hinduistischen Einflüssen zu reinigen und fordert die Besinnung auf die islamische Glaubenspraxis der Stifterzeit. Als Gegen-Reformbewegung zu Deoband begründet Ahmad Reza Khan (1856-1921) in Bareilly, unweit von Deoband, im heutigen indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, um 1900 eine Vereinigung von Schulen und Schreinen, aus der eine Denktradition gleichen Namens hervorgeht (Barelwi). Diese Denktradition, die sich selbst Ahl-e Sunnat, Leute der Sunna, der Lebensweise des Propheten und der Gefährten, nennt, predigt einen sufi-nahen Volksislam und rechtfertigt neben Schrein- und Heiligenkult insbesondere die rituelle Verehrung des Propheten.

Faizan-e Madina
Der Faizan-e Madina in Karachi ist die Weltzentrale der Da´wat-e Islami Foto: Thomas K. Gugler

Missionsbewegungen des Reform-Islams

Maulana Muhammad Ilyas (1885-1944), ein Deobandi, gründet 1926 die islamische Missionsbewegung Tablighi Jama'at. Diese agiert seit den 1960er Jahren global und bildet gegenwärtig, mit geschätzten zwölf bis fünfzehn Millionen Aktivisten, die vielleicht größte transnationale islamische Bewegung. Nach ihrem Vorbild gründet Maulana Muhammad Ilyas Attar Qadri (geb. 1950) in Karachi 1981 die Da'wat-e Islami als wichtigste Missionsbewegung der Barelwi-Tradition. Diese heute in mehr als sechzig Ländern aktive Bewegung hat ihren Hauptsitz im Faizan-e Madina, in Karachi, 1 und führt ihre silsila (Kette der Schülernachfolge) auf den Sufi-Prediger 'Abd al-Qadir Jilani (1088-1166) zurück. Analog den Gepflogenheiten eines Sufi-Ordens ist Ilyas Attar, der Gründer und Vorsitzende (amir), idealtypischerweise der Shaykh (murshid) jedes Anhängers (murid). Die Verbindung zu Allah wird über den murshid und dessen Verbindung zum Propheten Muhammad Mustafa, dem Auserwählten, hergestellt, dem die Anhänger in liebevoller Hingabe ergeben sind. Oder wie es der Missionar (da'i) ausdrückt: "If you miss the link, you will sink."

Multan Moped
Die ohnehin hohe Mobilität hochengagierter Frommer wird durch organisierte Reisetätigkeiten u. a. zu den zahlreichen Versammlungen, hier die jährliche Versammlung in Multan, erhöht. Foto: Thomas K. Gugler

Obgleich die Tablighi Jama'at und die Da'wat-e Islami miteinander rivalisieren und permanent symbolische Hierarchisierungs- und Verteilungskämpfe um gesellschaftlich zugestandene Anerkennung austragen, ähneln sie sich stark in Struktur und Vorgehen. Beide Gruppen geben sich strikt apolitisch, widmen sich insbesondere der inneren Mission, d.h. sie rufen sunnitische Muslime zum Guten auf (naiki ki da'wat), d.i. in die Moschee zu gehen und die Lebensweise des Propheten und seiner Gefährten (sunna) zu praktizieren und organisieren sich überwiegend über sich kurzfristig bildende Kleingruppen von reisenden Laienpredigern (madani qafila - Medinakarawane).

Obgleich der Begriff "innere Mission" aus dem Protestantismus stammt, es für ihn kein Äquivalent im Arabischen oder Urdu gibt und beide Bewegungen auch eine Reihe von Konvertiten mobilisieren konnten, ist der Terminus zur Charakterisierung des "Islamischen Programms" der beiden Reformbewegungen geeignet. Nach dem Vorbild der sechs grundlegenden Programmpunkte (che batein) der Tablighi Jama'at wird Sunna bei der Da'wat-e Islami in 72 Geboten, den sogenannten Medina-Belohnungen (madani in'amat), kodifiziert. Durch den Treuerschwur (bai'a) zu Muhammad Ilyas Attar ist die Mitgliedschaft bei der Da'wat-e Islami auf Dauer angelegt. Beide Gruppen legen großen Wert auf die Einhaltung von Kleidungsvorschriften. Neben der traditionellen weißen Kleidung der Muslime Südasiens (langes weißes Hemd und Pluderhose - salwar-kamiz) tragen die Anhänger der Da'wat-e Islami einen grünen Turban ('imama-sharif), der mittlerweile zum Markenzeichen der Bewegung geworden ist, einen grünen Bartkamm und einen braunen Medinaschal (madani chadar), der sich auch als Gebetsteppich verwenden lässt. Adrett gekleidete Menschen und eine demonstrative Kultur von Reinheit und Disziplin sind zentrale Elemente in den Zeichensystemen wiedererstarkter islamischer Orthodoxien, die ihre Symbole "amerikanisieren" bzw. deren Modifikation auf globale Standards aus Mitteleuropa abstimmen.

Sunna und Sunnatisierung als islamisches Programm der Reformbewegungen

Neben der Kleiderordnung sind die Anhänger angehalten, ihr tägliches Verhalten an den 72 Medinabelohnungen zu orientieren, dies allabendlich in ein Formular (madani card) einzutragen, regelmäßig an jährlichen und wöchentlichen Versammlungen (ijtema') teilzunehmen und sich einer Prediger-Gruppe (madani qafila) anzuschließen. Das Leitmotiv der Bewegung lautet: "Ich muss versuchen, mich selbst und alle Menschen dieser Erde zu verbessern" (mujhe apni aur sari dunya ke logon ki islah ki koshish karni hai). Hier wird die persönliche Frömmigkeit in Aktionsfrömmigkeit umgewandelt.

Karachiwalli
Mit Konformitätsdruck wird ein Kleidungsstil gepflegt, der die religiöse Identität klar markiert. Foto: Thomas K. Gugler

Ilyas Attars literarisches Hauptwerk "Faizan-e Sunnat" (Segnungen der Sunna) erklärt detailliert die imitatio muhammadi und fordert insofern die Sunnifizierung bzw. "Sunnatisierung" der Lebenswelten: Wer als erste Schritte Fernseher, Radio, Musik und die westliche Konsumkultur aufgegeben hat, findet im "Faizan-e Sunnat" in vier Bänden detailliert beschrieben, wie man nach Art des Propheten beispielsweise Treppen steigt oder Parfüms auf den Bart aufträgt. Sowohl Inhalt als Titel des "Faizan-e Sunnat" sind angelehnt an den "Faza'il-e A'mal" (New Delhi 2001; Virtuous Deeds) von Maulana Muhammad Zakariyya (1898-1982), dem Neffen von Tablighi-Gründer Muhammad Ilyas (1885-1944). Beide in Urdu verfassten Werke sind Beispiele für konkurrierende Aneignungsstrategien, Deutungscodes und institutionsbindender Aktualisierung bei gleichzeitiger Traditionspflege (Deoband bzw. Barelwi). Beide Werke bestehen im Wesentlichen aus Kommentaren zu Hadithen, also Erzählungen über nachahmenswerte Handlungen des Propheten, die religiös-moralische Warnungen enthalten, die nicht im Koran enthalten sind. Anhand dieser ahadith wird erläutert, wie man seinen Lebensstil reformieren soll und durch permanente Selbstverbesserung die Nachahmung bzw. Nachfolge des Propheten perfektioniert. Im Kontext von Diaspora-Gemeinden werden Entwürfe von "Sunna des Propheten" (sunnat al-nabi) immer weniger im Gegensatz zu bid'a (Neuerung) konstruiert, sondern zunehmend im Gegensatz zu westlichen Lebensstilen.

Mobilisierungsdynamik des südasiatischen Islams

Der Begriff Sunna ist in der Moderne der zentrale Terminus in Debatten zu religiöser Autoriät im Islam geworden. Sowohl Tablighi Jama'at wie Da'wat-e Islami entfalten ihre Mobilisierungsdynamik durch einen Fokus auf Sunna, die ein normatives System von Lebensweisen konstituiert. Durch die Selbstdisziplinierung sollen die überwiegend jugendlichen Anhänger, die zumeist einen Migrationshintergrund haben, befähigt werden, in der Nachahmung des Propheten autonom Sozial- und Vertrauenskapital zu generieren, das, so die These des Harvard-Soziologen Robert Putnam (2007), migrationsbedingt in Frage gestellt worden bzw. durch die Herauslösung aus dem Ursprungsland verloren gegangen ist. Symbolische Kapitalien sind anscheinend nicht beliebig in jede Kultur umwechselbar.

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Zum Freitagsgebet versammeln sich bis zu eintausend Muslime in der Tarek Ibn Ziad Moschee der Tablighi Jama´at (in Spanien auch: Tabligh al Dawa) in Barcelona, wo die zahrleichen Betenden drei Etagen füllen und zusätzlich bis auf die Straße gedrängt stehen. Foto: Thomas K. Gugler

Da sich die Da'wat-e Islami sufisch legitimiert, ist sie klar hierarchisch organisiert. In ihrer Selbstorganisation (intizam) spiegelt die Da'wat-e Islami auf verschiedenen institutionellen Ebenen den aus der Wahrheit des Glaubens und dem Treueschwur postulierten Gehorsam des Glaubens (vgl. Assmann 2006) wider. In der Zentrale, dem Faizan-e Madina in Karachi, werden ständige Vertreter für die einzelnen Länder designiert, die die Aktivitäten der hochengagierten Laienprediger vor Ort koordinieren. Diese agieren als Aufseher (negran) und stützen insofern ein Kontrollsystem. Eine ihrer Aufgaben ist das monatliche Einsammeln und Weiterleiten der Formulare (madani card), in denen die Anhänger ihr Verhalten anhand der 72 Gebote evaluieren. Die negran haben, obgleich keine echte Entscheidungsbefugnis, ein hohes Maß an lokaler Befehlsautorität.

Muslime aus Südasien in der europäischen Diaspora

In Deutschland beispielsweise gab es bis 2006 eine wöchentliche Versammlung (ijtema') in Frankfurt a.M., die am Samstag gefeiert wurde. Seit einem Jahr gibt es eine Anordnung von Ilyas Attar, dass die wöchentliche ijtema's auch in den europäischen Ländern am Donnerstag gefeiert werden sollen. In Folge dieser Entscheidung und der Unvereinbarkeit mit der Alltagsorganisation in Europa (arbeitsfreie Tage sind samstags und sonntags) sind einige Zentren in England geschlossen worden. Neben den wöchentlichen ijtema's gibt es jährliche ijtema's, von denen die Versammlung in Multan, Pakistan, die wichtigste ist. Dort versammeln sich etwa 1,5 Millionen Muslime zu einer dreitägigen ijtema', was sie zu einer der größten Zusammenkünfte von Muslimen weltweit macht. Jährliche ijtema's gibt es auch in Ahmedabad für Indien und in Birmingham für Europa. Verschiedene Aspekte der Bewegung werden von den Anhängern durchaus kontrovers diskutiert, wie etwa die Dauer des ijtema' - Programms, das sich in Pakistan über mehrere Stunden erstreckt, oder die Frage ob Spendengelder von Personen oder Institutionen angenommen werden können, die nur lose mit dem Islam verbunden sind oder gar als ungläubig gelten.

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Notausgang des Markaz Da'wat-e Islami in Barcelona (von außen). Foto: Thomas K. Gugler

Die translokalen Netzwerke der Da'wat-e Islami zeichnen sich durch extrem hohe Mobilität aus. Die meist jugendlichen Anhänger 2 sind angehalten einen Tag pro Woche und zusätzlich drei Tage monatlich mit einer Prediger-Delegation zu verbringen. Viele Anhänger sehen sich als Akteure einer Art Gegen-Elite und hegen die Hoffnung, bereits jetzt über die Bruderschaft am Aufbau einer gerechten, islamischen Gesellschaft mitzuwirken. Ein Bericht in der britischen Barelwi-Zeitung endet wie folgt (The Islamic Times, Aug. 2006): "It is especially important to emphasise that the religious is the political when direct politics in so many Muslim countries has failed, or is very difficult due to nightmarish secret police persecution. To change the World, all you have to do is to be religious".

Fussnoten

[ 1 ] http://www.suedasien.info/bilder/2022

[ 2 ] http://www.suedasien.info/bilder/2023.

Quelle: Der Text ist eine überarbeitete Version des gleichnamigen Artikels in: Al-Ain - Die Zeitschrift der Leipziger Arabistik. Juni 2007, S. 26-27.

Quellen

  • Assmann, Jan: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel. 3., erw. Auflage. München: Siemens Stiftung 2006.
  • Gugler, Thomas K.: Jihad, Da'wa, and Hijra: Islamic Missionary Movements in Europe. 2007: http://www.zmo.de/Mitarbeiter/Gugler/Jihad,%20Dawa%20and%20Hijra.pdf .
  • Gugler, Thomas K.: Parrots of Paradise - Symbols of the Super-Muslim
    Sunna, Sunnatisierung und imitatio Muhammadi in der pakistanischen Missionsbewegung Da'wat-e Islami. 2007: http://www.zmo.de/Mitarbeiter/Gugler/Parrots%20of%20Paradise.pdf .
  • Gugler, Thomas K.: The Islamic Missionary Movement Da'wat-e Islami: The Barelwi response to the translocal activism of Deoband? 2007:
    http://www.zmo.de/muslime_in_europa/ergebnisse/gugler/index.html .
  • Ilyas Qadri, Muhammad: Faizan-e Sunnat. 3. Aufl. Karachi: Maktaba tul-Madina 2006.
  • Putnam, Robert: E Pluribus Unum: Diversity and Community in the Twenty-first Century. In: Scandinavian Political Studies Vol. 30 No. 2. June 2007, S. 137-174.
  • Zakariyya, M.: Faza'il-e A'mal. II Bde. New Delhi: Idara Isha'at-e Diniyat 2001.

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