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Fünf Jahre später hat sich vieles verändert: Im Süden sind Taliban und militante Gegner der Regierung erstarkt. Zugleich ist die Popularität von Präsident Hamid Karsai, lange Zeit der Liebling des Westens, auf einem Tiefpunkt angelangt. Einheimische Bevölkerung wie westliche Diplomaten kritisieren sein Zaudern. Man wirft Karsai vor, zu nachsichtig mit Kriegsverbrechern und Drogenbaronen umzugehen. Nach den Mai-Unruhen in der Hauptstadt gab es Putschgerüchte gegen die Regierung, auch Spekulationen über eine Nach-Karsai-Ära.
In der kurzen Eruption der Gewalt im Mai 2006 hat sich nicht nur der Hass auf das rambohafte Auftreten von US-Militärs entladen. Auch internationale Hilfsorganisationen und deren Vertreter waren Ziel von Anfeindungen. Es ist kaum zu übersehen, dass ein Teil der internationalen Akteure bei der Bevölkerung an Vertrauen eingebüßt hat. Während hierzulande Unverständnis und Frustration über die afghanischen Verhältnisse wachsen, mehren sich die Anzeichen, dass internationale Staatengemeinschaft und Hilfsorganisationen mit ihrer Politik zur aktuellen Situation beigetragen haben.
In einem von "Foreign Policy" publizierten Index sogenannter "failed states" weltweit gehört Afghanistan wie auch der Irak zu den Top 10.[1] Die Rede von Afghanistan als einem "gescheiterten Staat" stellt aber auch einen Schutzmechanismus dar, verhindert sie doch in der Regel, dass sich Geberländer und Hilfsorganisationen ausreichend mit sich selbst auseinandersetzen. Das aber wäre notwendig, um das eigene Mitverschulden aufzuarbeiten.
75 Prozent der gesamten Hilfe aus den Afghanistan-Fördertöpfen werden direkt von den Geberländern verwaltet. Die afghanische Regierung möchte diesen Anteil unbedingt zu ihren Gunsten verändern. Sie hat erste Maßnahmen dazu erlassen, von denen sich die internationalen Akteure aber nicht sonderlich beeindruckt gezeigt haben. Die afghanische Regierung moniert vor allem, dass Geberländer und Hilfsorganisationen bisher nicht in der Lage waren, den Wiederaufbau wie versprochen zu koordinieren und die Prioritäten der Bevölkerung richtig zu erkennen. Deshalb, so die Argumentation, werde die Bevölkerung zunehmend unruhig. Das Manöver mag durchsichtig sein, um von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken – Präsident Karsai und seinem Kabinett wird Versagen bei der Korruptionsbekämpfung und im Kampf gegen ehemalige Mudschaheddin-Führer vorgeworfen, von denen die einflussreichsten im Parlament sitzen. Aber nicht nur bei den ehemaligen Milizen-Führern, von denen viele unverändert durch die USA gestützt werden, liegt die eigentliche Macht, sondern auch und vor allem in den Händen der internationalen Akteure.
Über 80 Prozent des afghanischen Haushalts kommen aus dem Ausland. Die daraus resultierende Ohnmacht hat auch die Kabinettsmitglieder Karsais erfasst. Hinzu kommt, dass das kürzlich eingeführte Steuerregime noch nicht richtig greift und vor allem die immensen Gelder aus dem Drogenschmuggel an der Staatskasse vorbeifließen.
Mehr Mitsprache und Transparenz bei den Investitionen und Entscheidungen, die das Land betreffen, würde die afghanische Regierung und das frisch gewählte Parlament in den Augen der eigenen Bevölkerung glaubwürdiger machen. Dass die Geberländer die Oberhand über die Hilfsgelder behalten, begründen sie mit der weit verbreiteten Korruption in Afghanistan. Und tatsächlich liegt hier eines der größten Probleme. Afghanistans Außenminister Dadfar Spanta spricht von einer "Unkultur" unter seinen Landsleuten.
Betrug, Missmanagement und Pfusch sind aber auch unter den internationalen Akteuren verbreitet. Die versickernden Millionen sind nicht bloß Legende. Die Schnellstraße zwischen Kabul und Kandahar, ein Vorzeigeprojekt der Amerikaner, ist bereits nach zwei Jahren wieder reparaturbedürftig. Sie wurde mit der billigsten aller möglichen Teer-Mischungen gebaut. Bei einem anderen Straßenbauvorhaben, der Schnellstraße nach Schibergan im Norden, wurden ebenfalls große Summen zweckentfremdet. Statt ausreichend Baustoffe zu ordern, hatte die federführende Louis Berger Group, ein privates amerikanisches Beratungsunternehmen mit guten Kontakten zur US-Regierung, weite Teile des Budgets von 15 Millionen US-Dollar für Komfortwohnungen und Gehälter leitender Angestellten verplant. Einige Ingenieure erhielten über 5.000 US-Dollar pro Monat, während die afghanischen Bauarbeiter mit 90 US-Dollar abgespeist werden. Wie verwunderlich ist es in diesem Kontext, fragt eine aktuelle Untersuchung, dass die ausländischen Fachkräfte ihre Unterkünfte nur mit Begleitschutz verlassen konnten?
Diese und andere Beispiele, die sich vor allem mit der amerikanischen Entwicklungshilfe in Afghanistan befassen, finden sich in dem investigativen Report von Fariba Nawa, die zwei Jahre lang vor Ort gearbeitet und über den Verbleib von Hilfsgeldern recherchiert hat. Die Autorin zitiert den Bericht einer Rechnungsbehörde des US-Kongresses, in dem es unter anderem heißt, die US-Entwicklungshilfe entbehre einer klaren Strategie und habe mitunter die Übersicht über ihre eigenen Projekte verloren.[2]
Nach Meinung der in Kabul ansässigen Organisation "Integrity Watch Afghanistan" hat der Westen das Thema Korruptionsbekämpfung lange Zeit vernachlässigt. Fälle von tatsächlichem Betrug wie auch eine Vielzahl von Gerüchten haben ein Klima geschaffen, in dem in den Augen der Bevölkerung die Verwendung der Hilfsgelder zunehmend fragwürdig erscheint. Um verlorenes Vertrauen wiederzuerlangen, war auf der internationalen Afghanistan-Konferenz im Januar 2006 in London ein Plan mit Namen "Afghanistan Compact" vereinbart worden, der Korruption bekämpfen und mehr Transparenz im Umgang mit den Milliarden an Hilfsgeldern schaffen soll. Bisher hat diese Vereinbarung jedoch noch keine nennenswerten Folgen gezeitigt.
Jean Mazurelle von der Weltbank in Kabul äußerte aus Anlass der Londoner Afghanistan-Konferenz, dass 35 bis 40 Prozent der internationalen Hilfe "falsch ausgegeben" würden. Nirgendwo auf der Welt, so Mazurelle, habe er in den vergangenen 30 Jahren einen solchen "Skandal" im Umgang mit Entwicklungshilfegeldern erlebt. In Fariba Nawas Bericht heißt es: "Das meiste Geld, das für Afghanistan bereit steht, gelangt nie nach Kabul. Die USA und die internationale Staatengemeinschaft haben ein System mit Hilfe der Weltfinanzorganisationen wie dem IWF und der Weltbank erstellt, mit dem das Land zu einer großen Maschine für Geldwäsche geworden ist. Selten verlassen die Hilfsgelder die Geberländer." Laut Nawa hat dieses System Methode und ist darauf ausgelegt, dass Ländern wie Afghanistan faktisch nicht nachhaltig geholfen werden kann.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Unternehmen in Afghanistan – angefangen bei der planenden Beraterfirma bis hin zum ausführenden afghanischen Subunternehmer – bei einem Projektauftrag von vornherein 6 bis 20 Prozent der Gesamtsumme einstreichen. Rechnet man Gehälter und Profitmargen dazu, bleibt oft nicht genug für den tatsächlichen Wiederaufbau übrig.
Enttäuschte Afghanen behaupten, internationale Firmen seien korrupter als afghanische, weil sie nur vorübergehend im Land, oft von sämtlichen Steuern befreit und auf schnellen Profit aus seien, bevor sie wieder abzögen. In Afghanistan gilt bekanntermaßen ein state of impunity, ein Zustand der Straffreiheit. Dies zieht clevere Geschäftsleute und windige Gestalten aus dem Ausland an. Nur ein geringer Teil der Hilfsgelder kommt wirklich bei den Menschen in Afghanistan an. Gehälter, Verwaltung und Materialaufwendungen staatlicher und halbstaatlicher Hilfsorganisationen verschlingen einen Großteil. Bundesdeutsche Organisationen machen da keine Ausnahme. Umso wichtiger sind Effizienz und Transparenz: Wenn die afghanische Regierung behauptet, dass viele Hilfsprojekte den Prioritäten der Bevölkerung nicht Rechnung trügen, liegt es nicht zuletzt an den Geberländern, diesen Vorwurf zu entkräften.
Amerikaner und Japaner haben zum Teil neue Schulgebäude für 100.000 bis 270.000 US-Dollar gebaut. Rupert Neudeck, der die deutschen "Grünhelme" leitet und dessen Organisation in der Provinz Herat mehrere Schulen und Krankeneinrichtungen gebaut hat, rechnet dagegen für den Bau einer Schule in Afghanistan mit Kosten von lediglich 45.000 US-Dollar. Oft arbeiten die kleinen Hilfsorganisationen wesentlich effizienter, nicht zuletzt weil sie keine kostenintensive Bürokratie finanzieren müssen. Daran könnten sich die großen Organisationen ein Beispiel nehmen.
Aber ganz gleich, um welchen Bereich der Entwicklungshilfe es sich dreht: Der zwischenmenschliche Faktor ist für den Erfolg der Zusammenarbeit ganz entscheidend. Mein Eindruck aufgrund mehrerer Aufenthalte im Land seit Anfang 2004 ist: Viele Entwicklungshelfer haben kein profundes Interesse an Land und Leuten. Die Abschottung ins Private, der Rückzug buchstäblich hinter die Mauern des Wohlstands, kann die kulturellen Unterschiede verstärken und zu Anfeindungen beitragen. Viele Ausländer in Kabul füllen ihre Kühlschränke mit westlichen Import-Gourmandisen und wenden sich nach Verlassen ihrer Büros von allem Afghanischen ab – eine Art Flucht vor der afghanischen Wirklichkeit.
In Kabul existieren zahlreiche internationale Bars und Restaurants. Afghanen sind zwar grundsätzlich zugelassen, aber nur sofern sie über die nötige Etikette und das nötige Portemonnaie verfügen. Über diesen Orten des "großen Fressens" hängt ein Geruch von Neokolonialismus. Aber nur wenigen Ausländern scheint dies bewusst zu sein. Donnerstag abends, wenn es ins islamische Wochenende geht, wollen die meisten Ausländer unter sich sein. Es fließt der Alkohol. Es gibt auch einige bordellähnliche Etablissements, oft verborgen in den Oberetagen asiatischer Restaurants – auch eine Folge der internationalen Präsenz in Kabul. Einige wurden bei Razzien bereits geschlossen. Zugleich bleibt die afghanische Öffentlichkeit davon nicht unberührt. Ein Teil der Afghanen identifiziert den Prozess der Demokratisierung auch damit. "Ich musste das Wort ‚Demokratie‘ von meinen Wahlplakaten streichen", so ein Bewerber der jüngsten Parlamentswahlen. "Meine Wähler reagierten negativ. Sie halten das Wort ‚Demokratie‘ für eine Art zu sagen ‚alles ist erlaubt‘."
Es fällt zudem auf, dass die Ausländer dem afghanischen Staat und seiner Wirtschaft viele zuverlässige Leute abziehen, damit diese Häuser und Autos der Entwicklungshelfer bewachen. Hunderte ausgebildeter Ärzte, Wissenschaftler und Ingenieure arbeiten so in Kabul als Wächter oder Fahrer. Die weißen Landrover mit schwarzem Panzerglas, die durch die Straßen brausen, erwecken ganz selbstverständlich Neid und Unmut.
Ein Aufeinanderprallen der Kulturen kommt manchmal dadurch zustande, dass deutsche wie internationale Hilfsorganisationen sehr junges Personal nach Afghanistan entsenden – Mitarbeiter, die Mitte 20 sind und sich am Hindukusch ausprobieren, das Abenteuer suchen, aber faktisch überfordert sind. Vielen fehlt das Wissen über das Gastland und ein Feingefühl für die Fallstricke, die das Leben in diesem sehr konservativen islamischen Land birgt. Auch die Auswahlverfahren für Hilfskräfte nach Afghanistan sind teilweise wirklichkeitsfremd. So spielen beim Deutschen Entwicklungsdienst Kenntnisse der Landessprache keine Rolle, obwohl gerade dies ein integrativer Faktor sein kann.
Ein Kernproblem des Landes ist unverändert der rasant wachsende Opiumanbau. Die Geberländer werden 2006 erneut als verlorenes Jahr im Kampf gegen die Droge verzeichnen. Nach jüngsten Angaben der UN-Behörde für Drogen- und Kriminalitätsbekämpfung UNODC in Kabul hat die Opiumproduktion im Vergleich zum Vorjahr um über 50 Prozent zugenommen. In Helmand, wo Rebellen und Drogenbanden ihre Angriffe auf die afghanische Armee und die multinationalen Streitkräfte verstärken, wuchs die Anbaufläche der UN-Statistik zufolge sogar um 162 Prozent.
Bei dem Versuch, alternative Lebensgrundlagen für die Opiumbauern zu schaffen, behindern sich die Geberländer teilweise gegenseitig. Die staatliche amerikanische Entwicklungshilfeagentur US-AID investiert insgesamt über 200 Millionen US-Dollar in die Schaffung alternativer Anbau- und Erwerbsstrukturen und damit ein Vielfaches dessen, was die Europäer in ähnliche Projekte stecken. Die Folge ist ein unkoordiniertes Vorgehen und ein "buy-out"; so haben US-Firmen afghanische Spezialisten aus Projekten der Europäer herausgekauft. "Das hat uns an einigen Stellen die Arbeit von ein bis zwei Jahren kaputt gemacht," erklärt ein Mitarbeiter der Agha-Khan-Stiftung, mit der auch die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) kooperiert.
Nach außen hin versuchen die Geberländer alles, um diese Differenzen nicht zutage treten zu lassen. Tatsächlich herrscht geradezu ein Klima der Verdächtigung. Zum Zeitpunkt der Londoner Konferenz wollten die Amerikaner – die anstehenden Kongresswahlen im November im Blick – die Vergabe von Entwicklungshilfegeldern mit raschen Erfolgen bei der Opiumbekämpfung verknüpfen. Die Europäer lehnten das ab.
Die Führung der UNODC ist ein Verfechter der sogenannten Alternativentwicklung. Dieses Konzept sieht vor, dass Erntevernichtungen mit finanziellen Anreizen zur Aufnahme alternativer Landwirtschaftsproduktionen gepaart werden. Allerdings, so sagen Kritiker, zeigen die Erfahrungen, etwa im lateinamerikanischen Kokaanbau, dass es schwer möglich ist, Ertragsausfälle aus dem zerstörten Drogenanbau unmittelbar durch Einkommen aus neuen Landwirtschaftsgütern zu kompensieren. Dort ist es zu großer Landflucht und sozialen Problemen in den Städten gekommen.[3]
Die Durchsetzung alternativer Anbaumethoden ist ein langwieriger Weg. Die östliche Provinz Nangarhar, in der die GTZ Projekte fördert und wo rund ein Viertel der afghanischen Schlafmohnproduktion zu Hause ist, verzeichnete noch 2005 einen signifikanten Rückgang der Anbaufläche. Zugleich kamen Provinzchefs und Hilfsorganisationen mit den versprochenen Ausgleichszahlungen für stillgelegte Mohnfelder und der Ausgabe alternativen Saatguts nicht nach. "Es braucht mindestens zwei bis drei Jahre, in vielen Fällen mehr, um eine nachhaltige Entwicklung voranzubringen. Die Gefahr ist groß, dass in diesem Jahr wieder vermehrt Schlafmohn zur Opiumproduktion angebaut wird", so Christoph Berg, GTZ-Projektleiter für Entwicklungsorientierte Drogenkontrolle, bereits zu Jahresbeginn. Seine Prognose hat sich bewahrheitet.
Bei der Drogenbekämpfung haben die Geberländer, mit den Briten als "lead nation", bisher kaum Erfolge zu verzeichnen. In der Tat gibt es keinen Königsweg; und ein Patentrezept hat keiner. Umso weniger angemessen erscheint die einseitige Verurteilung Präsident Karsais. Ein westlicher Diplomat meint: "Die Drogenfrage ist der wichtigste Eckpfeiler für die Zukunft, davon hängt alles andere ab: die Korruption, die bewaffneten Milizen, der Umgang mit den Menschenrechten und handlungsfähige Staatsorgane." Wahr ist aber auch: "Einige der besten Wiederaufbauprojekte werden von den Drogenhändlern und ihren Gewinnen finanziert."[4] Das Dilemma könnte größer nicht sein.
So gut wie alles in Afghanistan, hat man den Eindruck, wird aus den Nachbarländern Iran und Pakistan importiert: Reis und Öl, Zement und Strom. In afghanischen Kiosken und Straßengeschäften stapeln sich aber auch Produkte, wie man sie aus unseren Supermärkten kennt: Kiri-Käse, Kellog’s Cornflakes, Coca Cola. Afghanische Produkte haben es schwer, konkurrenzfähig zu sein. Eine Erfolgsgeschichte kommt aus der Provinz Herat, wo ein afghanisches Cola-Getränk hergestellt wird, das guten Absatz findet. Generell aber ist zu beobachten, dass das Land als Absatzmarkt anderer Länder und Globalisierung als Einbahnstraße und Demütigung erlebt wird. "Das meiste, was in meinem Land passiert, ist mittlerweile fremdbestimmt", klagt ein Taxifahrer in Kabul. "Ich frage mich, was wir tun können, damit unsere Wirtschaft eine Chance erhält."
Afghanistan anno 2006: eine moderne Variante des "Great Game", bei dem sich die internationalen Akteure das Land nach ihren Interessen aufteilen? Da spielt es keine Rolle, dass Afghanistan nicht offiziell als besetzt gilt. Hilfsorganisationen und Geberländer haben es versäumt, mehr verarbeitende Industrie anzusiedeln. Die Provinz Wardak ist beispielsweise ein blühender Obstgarten; viel davon geht in den Export. Aber in fünf Jahren ist es nicht gelungen, dort eine nennenswerte Obst verarbeitende Industrie anzusiedeln und dringend benötigte Arbeit zu schaffen.
Der zivile Wiederaufbau der Medien und die Liberalisierung traditionell staatsgesteuerter Presse- und Rundfunkerzeugnisse ist ein Bereich, der für Afghanistan besonders wichtig ist. Hier gibt es teilweise enorme Fortschritte zu verzeichnen, aber auch Wildwuchs. So ist in den vergangenen Jahren ein Netz von über 40 lokalen Radiostationen entstanden, mit dem die Hälfte der Bevölkerung erstmals aktuelle Radioprogramme empfangen kann. Die Mittel dazu kommen aus amerikanischer, europäischer und asiatischer Entwicklungshilfe. Radio ist bei der hohen Analphabetenquote das wichtigste Kommunikations- und Bildungsmittel in Afghanistan. Zugleich gibt es in Kabul eine Reihe von Hilfsorganisationen im Medienbereich, die ziemlich unkoordiniert vor sich hinarbeiten. Viel zu selten werden Anstrengungen gebündelt, um Synergieeffekte zu erzielen. Häufig hat die eine Organisation von den Aktivitäten der anderen keine genaue Kenntnis. Über 3000 Hilfsprojekte und Beraterfirmen bilden selbst für die Ausländer längst eine unübersichtliche Masse. Wie muss es da erst den Afghanen ergehen?
Die "Deutsche Welle" hilft seit Jahren bei der Reform des staatlichen afghanischen Rundfunks. Im Rahmen eines Kooperationsvertrages werden unter anderem 24 afghanische Fernsehjournalisten ausgebildet und neuerdings die internationalen Nachrichten der "Deutschen Welle" in Kabul produziert und von dort gesendet. Die "Deutsche Welle" hat engagierte Ausbilder in dieses und andere Rundfunkprojekte geschickt, einen Teil davon allerdings lediglich für die Dauer von einem Monat, bevor rotiert wurde und andere Ausbilder aus Deutschland einflogen. Effektives Einarbeiten zur beiderseitigen Zufriedenheit lässt sich in dieser kurzen Zeit zumeist nicht erreichen.
Deutsche Gelder flossen längere Zeit auch – direkt oder über EU-Mittel – in die internationale Medien-Hilfsorganisation Aina. Mehr als 100 Afghanen wurden dort zu Journalisten ausgebildet, darunter eine Reihe afghanischer Video-Journalistinnen. Die dortige Abteilung für Fotografie sollte eine sich selbst tragende Agentur werden. Von dem Versprechen ist nichts geblieben. Misswirtschaft und Vorteilsnahme auf Seiten der Gründer und des ausländischen Managements haben von der Organisation nur noch wenig übrig gelassen. "Wir sind hier über Jahre betrogen worden", sagt ein Fotograf, der selbst bei Aina ausgebildet wurde. "Wir haben nie die versprochenen Arbeitsverträge bekommen. Man hatte uns auch 20 Prozent und mehr am Verkauf unserer Fotos zugesagt, aber davon haben wir nie etwas gesehen." Fast alle Fotografen und Journalisten sind mittlerweile enttäuscht abgewandert.
Noch scheint keiner der Geldgeber, auch von deutscher Seite nicht, eine Untersuchung angestrengt zu haben, wie es zum Verfall dieser viel gepriesenen Organisation kommen konnte. Nicht nur in diesem Fall ist zu fragen: Wer kontrolliert und überprüft die Empfängerorganisationen?
Ohne Sicherheit werden alle Anstrengungen nicht fruchten. Rund drei Viertel der geplanten drei Milliarden Euro, die die USA als größtes Geberland dieses Jahr nach Afghanistan investieren wollen, sollen für die Sicherheit bereitgestellt werden. Das weckt Sorgen vor einer Militarisierung der Entwicklungshilfe. Das Gegenteil wäre erforderlich: Gerade in den umkämpften Südprovinzen des Landes ist bisher weniger sichtbare Hilfe geflossen als in andere Landesteile. Im Süden schwindet auch die Hoffnung auf Arbeit. Die Menschen werden ungeduldig. Sie verlieren zunehmend den Glauben an Besserung, an Recht und Ordnung. So ist es möglich, dass sich dort Gegner der Regierung festsetzen können. Einschüchterung durch Waffengewalt tut ihr Übriges. In der südlichen Provinz Helmand, einem Hauptanbaugebiet von Schlafmohn, gibt es mittlerweile Allianzen zwischen Drogenbossen und Taliban-Gruppen. Letztere gewähren der Narco-Mafia Schutz und können sich so einnisten.
Vieles spricht dafür, dass die Lage im Süden entscheidend für den weiteren Werdegang des Landes sein wird. Für die NATO sind die Folgen ihres ersten und größten Kampfauftrags außerhalb Europas noch nicht abzusehen. Es droht hoher Blutzoll und eine Vermengung der militärischen Aufträge: Die strikte Trennung zwischen dem Mandat der US-geführten Koalitionskräfte, die Jagd auf Taliban und auf vermeintliche Terroristen machen, und der ISAF-Mission, die sich bisher als Polizeieinsatz verstand, verschwimmt zusehends. Die ISAF wird damit amerikanischer. Darin liegt auch eine Gefahr für Leib und Leben deutscher Soldaten.
US-Soldaten sind in der Bevölkerung verhasster als die Militärs anderer Nationen. "Die ISAF stand in den Augen der Afghanen bislang für Sicherheit und Wiederaufbau. Die Amerikaner und Koalitionskräfte, also zum Teil auch die Briten, stehen für Krieg, Waffen, Gewalt und B-52-Bomber", sagt Filmregisseur Mahmud Salimi. Die Deutschen und ihre Bundeswehr sind in Afghanistan beliebt. Es hat in der Vergangenheit sogar schon Fälle gegeben, in denen US-Soldaten Bundeswehrkleidung gestohlen haben, um sich in der Öffentlichkeit einer geringeren Gefahr auszusetzen.
Mittlerweile sind Überlegungen der ISAF publik geworden, auch Bundeswehrsoldaten, zumindest zeitlich begrenzt, am Einsatz im instabilen Süden zu beteiligen. Details der Planung werden seit Ende August ebenso diskutiert wie dementiert. Am Ende könnte auch die Bundeswehr in die Kämpfe zwischen Aufständischen und der Schutztruppe verwickelt werden. Das Mandat der ISAF erlaubt Derartiges. Einige der NATO-Partner beäugen die Bundeswehr kritisch, weil die Deutschen im relativ sicheren Norden stationiert sind, während andere Nationen im Süden Woche um Woche Verluste erleiden. Die im Oktober anstehende Verlängerung des Afghanistan-Mandats im Bundestag ist schon jetzt umstrittener als in den Vorjahren. Aber kann man unverrichteter Dinge aus Afghanistan abziehen?
Je konkreter der Kampfauftrag, desto größer auch das Risiko, als Besatzer wahrgenommenen zu werden. ISAF-Soldaten gehen in Kabul schon seit Jahren keine gemeinsamen Fußpatrouillen mehr mit afghanischen Kollegen. Dadurch wächst die Distanz zur afghanischen Bevölkerung. Wenn die Sicherheitslage sich nicht rasch verbessert, könnten Entfremdung und Unzufriedenheit unter Afghanen sogar weiter um sich greifen. Die ausländischen Streitkräfte drohen sich dann unter Umständen in ähnliche Fallstricke zu verheddern wie die Sowjetunion in den 80er Jahren. "Es wäre eigentlich an der Zeit, das ganze militärische Engagement grundsätzlich zu überdenken", sagt Carlotta Gall, die Kabul-Korrespondentin der "New York Times". Weniger Soldaten könnten mehr Gelder für den zivilen Wiederaufbau freimachen.
Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Viele Hilfsprojekte haben zweifellos Positives bewirkt. Es gehen wieder über sechs Millionen Kinder zur Schule. Die Versorgung mit Strom und Wasser verbessert sich, ebenso das Straßennetz. Es herrscht weitgehende Meinungsfreiheit.
Es geht deshalb nicht um einen Pauschalverdacht gegen internationale Hilfsorganisationen. Um einem solchen Verdacht entgegenzuwirken, müssten die internationalen Akteure allerdings mehr Transparenz schaffen. Nur so kann man verlorenes Vertrauen bei der Bevölkerung zurückgewinnen.
De facto ist Afghanistan ein Protektorat von USA, Vereinten Nationen und großen Finanzorganisationen wie Weltbank oder Asiatischer Entwicklungsbank. Nimmt man sämtliche Hilfsprogramme zusammen, werden fast alle gesellschaftlichen Werte der Afghanen auf den Prüfstand gestellt. Das führt zu einem schleichenden Verlust an Selbstwertgefühl und Identität. Kritiker sprechen von Afghanistan auch als einem großen Umerziehungslager.
Der ehemalige Vorsitzende von Unicef-Deutschland, Reinhard Schlagintweit, hat Recht, wenn er von mangelndem Feingefühl spricht. "Es muss viel behutsamer vorgegangen werden, zum Beispiel in der Frage der Befreiung der Frau. Es muss das Erziehungssystem behutsamer gefördert werden, als es bisher getan worden ist, und nicht mit dem Anspruch, hier das Richtige und Moderne zu tun." Wer nach Afghanistan komme, so Schlagintweit, käme häufig mit dem Gefühl, "eine Mission zu erfüllen, nämlich dem Land zu helfen, nicht nur zur Nation zu werden, sondern auch in die Moderne einzutreten. Dabei spricht man zu sehr mit der Oberschicht und nicht mit der großen Mehrheit der Bevölkerung." Viele Afghanen mögen zwar ungebildet sein, aber sie besitzen ein feines Gespür, beispielsweise für die Gefahr, erneut zum strategischen Spielball anderer Nationen zu werden.
Langsam aber sicher gewinnt die Erkenntnis Raum, dass sich Afghanistans Probleme nicht binnen weniger Jahre lösen lassen. Gerade deshalb erwarten die Steuerzahler zu Hause völlig zu Recht, dass die Hilfsgelder verantwortlich ausgegeben werden. Den Beweis dafür sind die Geberländer bis heute schuldig geblieben.
[1] "Foreign Policy" 3/2006, S. 50 ff.
[2] Fariba Nawa, Afghanistan Inc., Oakland 2006.
[3] Auch die Bevölkerung in Kabul ist seit Ende des Taliban-Regimes von rund 800.000 auf (geschätzte) vier Millionen angewachsen.
[4] Zit. n. Nawa, a.a.O.; vgl. auch Matthias Adolf, Opiumökonomie Afghanistan, in: "Blätter" 1/2006, S. 75-81.
Quelle: Der Artikel erschien im Orginal in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2006, S. 1213 - 1221.
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