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Kathmandu. Das Dachrestaurant, in dem wir uns verabredet haben, bietet einen hervorragenden Blick auf den nahe gelegenen Durbar Square – das kulturelle und touristische Zentrum Kathmandus mit seinen vielen Tempeln, Gebetsschreinen und Brunnen –, wie auch auf die geschäftige New Road, auf der sich die Einkaufenden auf den abgesperrten Gehsteigen um die Auslagen moderner Gebrauchsgegenstände drängeln.
Bei Einbruch der Dunkelheit verändert sich jedoch das Bild: Soldaten verwandeln das Restaurant mit Sandsäcken und Gewehren in einen Aussichtsposten, um die unter uns befindliche Kreuzung für die kommende Nacht zu sichern. Auch wir können die aufkommende Nervosität spüren. Bei einer Fahrt in die unweit von Kathmandu gelegene Kleinstadt Dhulikel müssen unsere nepalischen Begleiter bei insgesamt sieben Armee-Checkpoints den öffentlichen Bus verlassen und sich ausweisen, während Soldaten den Bus nach verdächtigen Koffern und Taschen absuchen.
Seit dem Abbruch der Friedensgespräche zwischen den maoistischen Aufständischen der Communist Party of Nepal – Maoists (CPN-Maoists) und der Regierung im August 2003 ist die Atmosphäre auf das Äußerste gespannt. Zeitungsmeldungen zufolge sind seither mehr als 1000 bewaffnete Kämpfer, Armeeangehörige und Polizisten getötet worden. Die Aktivitäten der Rebellen und die Repression der Sicherheitskräfte nehmen zu. Eine friedliche Lösung und eine Rückkehr zur Demokratie liegt momentan außerhalb der Sichtweite.
Werden auch die etwa 2,5 Millionen nepalischen Dalits – die Angehörigen der im hinduistischen Kastensystem als "unrein" geltenden "Unberührbaren" – eine bewaffnete Erhebung beginnen, wenn das politische Establishment ihre Probleme weiterhin ignoriert? Das sind bisher nur Vermutungen im Kontext des sich seit mehreren Jahren abspielenden Machtkampfes zwischen König und Regierung auf der einen Seite, und einer breiten, jedoch in vielen Einzelinteressen gespaltenen Opposition auf der anderen Seite. Vieles spricht zumindest dafür, dass sich in den letzten Jahren mehr und mehr Dalits den Rebellen angeschlossen haben – ob freiwillig oder nicht.
"Es ist fast zwangsläufig so", resümiert Meen Bishwakarma von der Nationalen Dalit Kommission (NDC), "dass Dalits entweder als Reaktion auf die Repression von Polizei oder Armee zu den Rebellen gehen, oder weil die Maoisten Angehörige dieses Bevölkerungsteils von der Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes überzeugen." Wie im großen Nachbarland Indien ist die gesellschaftliche Struktur des offiziell zum hinduistischen Königreich erklärten Nepal weitgehend von einem rigiden Kastensystem und Praktiken von "Unberührbarkeit" bestimmt, aus denen ein individuelles Ausbrechen kaum vorstellbar ist.
Sprecher von Nichtregierungsorganisationen (NRO) der Dalits geben zu, dass das Beharren der maoistischen Rebellen auf der Forderung nach Abschaffung des Kas-tensystems ("für alle Zeiten", so heißt es in der 40-Punkte-Erklärung von 1996 und in dem 24-Punkteprogramm für die Friedensverhandlungen von 2003) unter den Dalits manche Hoffnungen auf eine gerechtere Gesellschaft weckten. Bisher ist die Randposition der Dalits jedenfalls allgegenwärtig. So zum Beispiel beim Zugang zu Trinkwasser (die Standards der öffentlichen Brunnen in den Vierteln der Dalits unterscheiden sich signifikant von denen anderer Kastengruppen). In den Restaurants existiert in einigen Distrikten ein "Zwei-Glas-System", d.h., es gibt für Dalits und Nicht-Dalits verschiedene Teegläser und Geschirr. In Schulen müssen Dalit-Kinder noch außerhalb des Unterrichtsraumes sitzen. Und noch immer wird Dalits der Zutritt zu Tempelanlagen verwehrt.
Die meisten Schuldknechtarbeiter/-innen (Bonded laborers), Kinderarbeitskräfte und Straßenkinder kommen aus Dalit-Gruppen. Und auch Prostituierte – trotz des Tabus der "Unberührbarkeit" stellt dies für die Männer der so genannten höheren Kasten kein Problem dar. Im Übrigen stammen auch tausende Prostituierte in den Rotlichtvierteln Mumbais aus Nepal.
Die Dalit-Familien leben zumeist in großer Armut. Nach Berichten des UN-Ent-wicklungsprogramms (UNDP) beträgt ihr durchschnittliches Jahreseinkommen 39 Dollar. Rund 90 Prozent von ihnen sind Analphabeten (gegenüber 50 Prozent der anderen Bevölkerungsgruppen). Auch ihr Zugang zu Land ist gering: 77 Prozent der Dalits besitzen im Durchschnitt lediglich einen halben Hektar. Dalits verdingen sich vor allem als landwirtschaftliche Arbeiter, als Schneider, in der Leder- und Teppichverarbeitung, als Goldschmiede und als Musiker.
Die Öffnung der nepalesischen Märkte zu Beginn der 90er Jahre brachte nicht nur billigere chinesische und indische Massenware ins Land, sondern führte zu einem lokalen Verdrängungswettbewerb, bei dem die traditionellen Handwerker nicht mithalten können. Was bleibt, ist der Weg in schlechter bezahlte, prekäre Saison-Beschäftigung.
Mit der 1990 wieder eingeführten demokratischen Verfassung sollte die Abschaffung aller Formen der Diskriminierung und die Einhaltung der fundamentalen Menschenrechte für alle Bürger verbunden sein. Zehn Jahre später, im August 2001, stufte der damalige Premierminister Deuba die Praxis von "Unberührbarbeit" als Verbrechen ein und kündigte entsprechende Gesetzesinitiativen an. Eine Kommission sollte dem Parlament dazu Empfehlungen vorlegen. Doch umgesetzt wurde bis heute allein die Einsetzung der Nationalen Dalit Kommission.
Die weit verbreitete Korruption bei Polizeibehörden und Staatsverwaltung trägt ein Übriges dazu bei, dass die wenigen juristischen Mittel (wie das Zivilrecht von 1963, das alle Formen von Diskriminierung unter Strafe stellt) gegen Kastendiskriminierung im Alltag nicht greifen. Zudem hat die politische Krise und die Ausrufung des Ausnahmezustandes im November 2002 nach Berichten von Amnesty International zu einem drastischen Anstieg von Verletzungen elementarer Menschenrechte in Nepal geführt – nicht zuletzt gegenüber Dalits.
Die Organisationen, die seit langem für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Dalits kämpfen, bleiben jedoch vielfach auf lokale Zusammenhänge beschränkt. "Die Bewegungen in der Vergangenheit waren sporadische Proteste und bildeten sich nach besonders schweren Fällen von Diskriminierungen", analysiert Hiro Vishwakarma, Manager für ein Dalit-Unterstützungsprogramm der Hilfsorganisation ActionAid-Nepal, die Situation der Dalit-Bewegung der letzten Jahre. Aber es gibt in Nepal auch Ansätze einer neuen zivilgesellschaftlichen Verantwortung für die "Unberührbaren". Besonders die Netzwerke "Dalit NGO Federation of Nepal" und "Feminist Dalit Organisation" (FEDO) geben starke Impulse für gesellschaftspolitische Interventionen.
Druck auf das politische Establishment in Kathmandu wird nun auch von der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank ausgeübt. Die Institute verlangen von der nepalesischen Regierung Rechenschaft über die Ausgaben für Entwicklungsprogramme zur Armutslinderung und sehen in der starren Haltung der Regierung bei der Suche nach einer friedlichen Lösung des bewaffneten Aufstands die Entwicklungsfortschritte der letzten Jahre gefährdet.
Dank der Zusammenarbeit mit dem internationalen Dalit Solidaritätsnetzwerk (IDSN) und einer erfolgreichen Lobbyarbeit in UNO-Menschenrechtsgremien sind die nepalesischen Dalit-Organisationen inzwischen auch in das Blickfeld internationaler Geber- und Entwicklungsorganisationen gerückt. Lange Zeit wurde die Kastendiskriminierung in Nepal weitgehend ignoriert. So bedeutet es für die Dalit-Föderation einen großen Erfolg, dass zum ersten Mal ein Projekt für Dalits durch eine britische Entwicklungsorganisationen mit 1,5 Millionen Euro unterstützt wird. In sechs Distrikten sollen Dalits durch dieses Programm befähigt werden, eigene Entwicklungsideen umzusetzen und sich für ihre Rechte gegenüber Staat und Oligarchie einzusetzen.
Eine stärker basisorientierte Dalit-Bewegung, die eine eigene politische Agenda formulieren und vertreten kann, stellt auch den besten Schutz vor Vereinnahmungen von Seiten der Regierung als auch anderer politischer Kräfte wie etwa der maoistischen Rebellen dar. Das wird vielleicht auch einer der Punkte der Dalit-Debatten des Weltsozialforums von Mumbai sein.
Quelle: Dieser Beitrag erschien am 5. Januar 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
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