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11. November 2006. Analysen: Wirtschaft & Soziales - Indien Staatliche Einheit und religiöse Vielfalt in Indien

Es gibt heute keine entwickelte Gesellschaft mehr, in der nicht Menschen mit verschiedenen Kulturen, Religionen, Weltanschauungen oder Wertvorstellungen zusammenleben und das Recht und den Staat gleichberechtigt als ihr Recht und ihren Staat betrachten. Dies bedeutet, dass keine Weltanschauung mehr den Anspruch erheben kann, für die gesamte Gesellschaft repräsentativ zu sein.

Es bedarf eines zwischen den verschiedenen Weltanschauungen vermittelnden Standpunkts, dessen Formulierung nicht von Grundvoraussetzungen abhängt, die zwischen den verschiedenen Weltanschauungen kontrovers sind. Seine Formulierung muss zwischen den verschiedenen Weltanschauungen neutral sein.[1]

Ein sowohl historisches als auch zeitgeschichtlich interessantes Beispiel, in dem Angehörige verschiedenster angestammter Bevölkerungsteile versucht haben und versuchen, von ihren unterschiedlichen weltanschaulichen und religiösen Orientierungen her in einem Konsens zu Grundfragen des Zusammenlebens überein zu kommen, ist Indien. Für viele gilt Indien daher als ein Musterbeispiel für interreligiöse Toleranz. Hier leben seit Jahrhunderten Angehörige von Stammesvölkern und Naturreligionen, Hindus und Muslime, Jains und Buddhisten, Zoroaster und Sikhs, Juden und Christen, Atheisten, Agnostiker und Mystiker mehr oder weniger erfolgreich zusammen.[2]

Indien ist ein Staat, der sich in seiner spezifischen Weise als säkular versteht, d.h. er bemüht sich nicht um Äquidistanz zu allen Religionsgemeinschaften bzw. um eine völlige Trennung der politischen und der religiösen Sphären, sondern um eine ausgewogene Nähe zu allen Religionsgemeinschaften.[3] Damit folgt Indien nicht etwa der laizistischen (Frankreich, Türkei), sondern auf seine besondere Weise der liberal-demokratischen Verfassungstradition. Es hat darüber hinaus einige verfassungsmäßige Besonderheiten entwickelt, die es von allen Demokratien westlicher Prägung unterscheidet: ein je eigenes Familienrecht für die Angehörigen der zwei größten angestammten Bevölkerungsteile: Hindus und Muslime - eine Maßnahme, die noch auf die britische Kolonialzeit zurückgeht und die vom unabhängigen Indien übernommen wurde.

Indien ist damit vielleicht das einzige Land mit einer 'multikulturellen' Verfassung, d.h. eine Verfassung, die es gestattet, dass Individuen in bestimmten Bereichen (hier: dem Personenstandsrecht) nicht als solche dem Recht unterworfen sind, sondern vermittels ihrer Zugehörigkeit zu einer religiös definierten Gruppe. Damit wird religiös definierten Gruppen eine öffentliche Repräsentanz auf Kosten der Individualrechte ihrer Mitglieder verschafft, wie dies von extremen Multikulturalisten auch in anderen Kontexten gefordert wird. Der verfassungsmäßige Multikulturalismus Indiens wird immer noch heiß diskutiert vor allem wegen der Möglichkeit von Konflikten zwischen Individualrechten und Gruppenrechten.[4] Aus liberal-demokratischer Sicht wäre es beispielsweise nicht akzeptabel, dass Sphären der Autonomie dazu missbraucht würden, Grundrechte partiell außer Kraft zu setzen.

Eine häufig vertretene Auffassung zur Frage des Zusammenlebens von Muslimen und Hindus ist, dass Muslime und Hindus im täglichen Leben zwar sehr gut miteinander auskämen, wenn nicht die verantwortungslosen Politiker die Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften immer wieder gegeneinander aufbrächten, um daraus machtpolitisches Kapital zu schlagen. An dieser Einschätzung scheint einiges richtig zu sein. So beglaubigt der indische Sozialwissenschaftler T. N. Madan in seinem Werk zu Säkularismus und Fundamentalismus in Indien:[5]

There is considerable historical and ethnographical evidence that the common people of this country, whatever their religious background, are comfortable with religious pluralism in one form or another and practice it.

Auch der indische Sozialpsychologe Ashis Nandy ist der Meinung, dass bei den meisten religiösen Ausschreitungen, von der Teilung des Subkontinents im Jahr 1947 bis zu den Pogromen in Gujarat im Frühjahr 2002, das Kalkül von Politikern eine entscheidende Rolle gespielt hat. Unruhen in Südasien seien in der Regel nicht spontane Ausbrüche eines permanent schwelenden Hasses zwischen den Religionsgemeinschaften sondern sie seien von politischen Gruppen organisiert, die diese Gewaltbereitschaft bewusst entfachen und schüren.[6] Der Bericht des Concerned Citizens Tribunal zeiht führende Politiker der aktiven und führenden Teilnahme an den Ausschreitungen und Plünderungen in Gujarat.[7]

Anthropologische[8] und sozialwissenschaftliche[9] Studien zeigen zwar, dass die Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften oft sehr klischeehafte Vorstellungen von den jeweils anderen Gemeinschaften haben, die auch durchaus negativ markiert sein können. Im täglichen Zusammenleben scheinen solche Vorstellungen jedoch anderen Maximen untergeordnet zu sein. Die von den Angehörigen aller Religionsgemeinschaften geteilte Alltagskultur folgt ihren eigenen Gesetzen, wobei es zu engen Verflechtungen nicht nur im Alltag (Geschäfts-, Nachbarschafts-, Freundschaftsbeziehungen) sondern sogar im religiösen Leben der verschiedenen Gemeinschaften kommen kann (etwa die Teilnahme an den religiösen Festen der jeweils anderen Gemeinschaft). Häufig sind so genannte heilige Männer und religiöse Schreine (muslimische Pirs und Dargas, hinduistische Sadhus und Tempel) Anlaufpunkte für Gläubige auch der jeweils anderen Religionsgemeinschaften. Nur zur Vermischung kommt es nicht. Eheschließungen über Gemeinschaftsgrenzen hinweg sind unüblich.

Vielleicht ist es die mangelnde philosophische und institutionelle Absicherung dieser gelebten Praxis der gegenseitigen Anerkennung, welche es Demagogen aller Couleur immer wieder erlaubt, Gemeinschaften gegeneinander aufzubringen. Gegen die Versiertheit eines muslimischen Schriftgelehrten oder die Rhetorik eines Hindu-Nationalisten nimmt sich der bloße Verweis auf die gelebte Praxis vielleicht zu schlicht aus. So vermutet auch T. N. Madan: 'whatever exists empirically ... and not also ideologically, exists but precariously.’[10]

Die Alltagsrationalität im Umgang miteinander beruht häufig auf der Überzeugung, dass ein offen ausgetragener Konflikt letztlich beiden Seiten mehr schadet als nützt.[11] Eine solche Logik funktioniert freilich nur in mehr oder weniger fest gefügten Gemeinschaften, in der Einzelne in Überlebensfragen von einem weiten Netz persönlicher Beziehungen zu anderen Menschen - im Dorf, im Stadtviertel - abhängen. Prekär erscheinen in diesem Licht die Lebensbedingungen in den Großstädten. Die Möglichkeit, einander auszuweichen und selektiv nur mit Menschen zu interagieren, die einem genehm sind, verhindern die Entstehung einer Praxis des Zusammenlebens mit Angehörigen der jeweils anderen Gemeinschaft und lassen die Illusion aufkommen, die gesamte Gesellschaft könnte nach dem Modell der eigenen Gruppe geformt werden.

Während im Dorf oder im Stadtviertel zwar ebenfalls Stereotypen vom Angehörigen der jeweils anderen Gemeinschaft existieren, werden diese im täglichen Leben doch immer wieder relativiert. Im urbanen Kontext besteht dazu keine Notwendigkeit. Man kann eben beim Hindu einkaufen, wenn einem der Muslim nicht gefällt und umgekehrt. Man kann sich eine muslimische Nachbarschaft aussuchen, wenn einem die Nachbarschaft mit Hindus nicht gefällt oder man pflegt Beziehungen nur mit einem Nachbarn und nicht mit dem anderen. Wo die Zwänge und die spezifische Rationalität der alltäglichen Lebenspraxis einer eng geflochtenen Lebensgemeinschaft den jeweiligen Stereotypen nicht relativierend zur Seite stehen, bleibt offenbar vom Bild des Anderen nur noch das Feindbild übrig. Hier können Demagogen ansetzen mit ihren inhumanen Ideologien und rigiden Vorstellungen von Orthodoxie. In der Tat scheinen auch in Indien religiöse Ausschreitungen vornehmlich ein städtisches Phänomen zu sein. So bemerkt Nandy: ‘Rioting everywhere is pre-eminently an urban disease.’[12] Wenn die Ausschreitungen in Gujarat im Jahr 2002 auch weit in ländliche Gebiete ausgestrahlt haben; der Motor lag doch wohl bei der urbanen politischen Klasse und ihren Komplizen.

Da unter den Lebensbedingungen der Urbanität ideologisch oder dogmatisch vermittelte Loyalitäten den Platz besetzen, den vordem die Rationalität einer komplexen Lebensgemeinschaft eingenommen haben, ist es vielleicht angemessen, diesem Vermittlungsprozess ebenfalls diskursiv zu begegnen. Das Korrektiv für eine von lebenspraktischen Belangen abgehobenen Rationalität eines ideologischen Purismus oder einer religiösen Orthodoxie kann wohl nicht die Rückkehr zur verlorenen Rationalität des Gemeinschaftslebens sein sondern ein Überschreiten dieser auf ein universelles (humanistisches) Ziel hin. Dies ist das spezifisch Moderne an der Situation in Indien und hier setzen auch die modernen Bewegungen der religiösen Fundamentalisten an. Es käme darauf an, diese Herausforderung unter Hinweis auf alternative universalistische aber säkulare Vorstellungen von Modernität anzunehmen. Im Westen würde man an kosmopolitische, humanistische und an Begriffe von universeller Menschlichkeit und daraus abgeleitete Menschenrechte anknüpfen. Dies tun vereinzelt auch indische Autoren und Aktivisten. Zu beobachten ist weiterhin ein beharrlicher säkularer Nationalismus als moderne Antwort auf die Herausforderung religiöser Bewegungen.

Mit dem Terminus ‘säkularer Nationalismus’ bezeichnet man in Indien die aus der anti-kolonialen Befreiungsbewegung hervorgegangene Staatsdoktrin, wie sie vor allem durch Nehru verkörpert wird.[13] Diese Staatsdoktrin ist säkular im oben angedeuteten Sinn und sie ist nationalistisch, indem sie den Gedanken des Empire verwirft und auf der vollständigen Souveränität des indischen Staatsvolkes beharrt (und nicht etwa formell die Queen als Staatsoberhaupt anerkennt, wie dies in anderen ehemaligen britischen Kolonien der Fall ist). Diese Staatsdoktrin gerät seit etwa Anfang der achtziger Jahre unter Druck durch Bewegungen, die alternative staatsrechtliche Vorstellungen vertreten. Da ist zum einen der schon erwähnte Hindu-Nationalismus, der unverhohlen eine Privilegierung von Hindus gegenüber religiösen Minderheiten fordert. Andererseits fordern religiöse Minderheiten, diskriminierte Kasten und Stammesangehörige verstärkt eine Privilegierung ihrer Anliegen im Sinne von Affirmative action Programmen (sog. scheduled casts & scheduled tribes) oder Reservations im Sinne eines nicht mehr mit dem liberal-demokratischen Vorrang der Individualrechte zu vereinbarenden Multikulturalismus. Auf diese auch als ‘Identity politics’ bezeichnete Tendenz reagieren Anhänger des Nehru’schen säkularen Nationalismus alarmiert. Dazu gehören auch linke Kräfte, die sich zwar häufig ‘kommunistisch’ nennen, zum großen Teil aber eher mit der deutschen Sozialdemokratie post Godesberger Programm verglichen werden können.[14]

Es bleibt abzuwarten, welche Kräfte sich letztlich durchsetzen werden. Zur Herstellung eines tragfähigen Konsenses jedenfalls taugt der Bezug auf exklusive Identitäten wie Religionszugehörigkeit oder Ethnizität nicht.

Anmerkungen

[1] Für eine theoretische Fundierung dieses Gedankens verweise ich auf Rawls’ Konzeption einer 'freistehenden Gerechtigkeitskonzeption’ und eines 'überlappenden Konsenses.’ Vgl. Dusche, Michael. Der Philosoph als Mediator. Anwendungsbedingungen globaler Gerechtigkeit. Wien: Passagen Verlag, 2000.

[2] Dass sich dies mit dem wachsenden Hindu-Nationalismus zu ändern droht und Muslime in die prekäre Lage geraten, der Juden in Europa Jahrhunderte lang ausgesetzt waren, ist höchst irritierend.

[3] Vgl. Bhargava, Rajeev, ed. Secularism and its Critics. Delhi: Oxford University Press, 1998. Häufig wird Indien in dieser Beziehung für einzigartig gehalten. Auf die Parallelen zwischen dem 'indischen Säkularismus’ und der deutschen Verfassungstradition habe ich an anderer Stelle hingewiesen. Vgl. Dusche, Michael. ‘Asserting Religious Identities in the Federal Republic of Germany’ in: Saberwal, Satish & Hassan, Mushirul (eds.) Assertive Religious Identities: India and Europe, Manohar, New Delhi, 2006, pp. 415-437.

[4] Vgl. dazu Dusche, Michael. ‘Multiculturalism, Communitarianism, and Liberal Pluralism.’ In: Religious Pluralism in South Asia and Europe, edited by Jamal Malik and Helmut Reifeld, 120-144. New Delhi: Oxford University Press, 2005.

[5] Vgl. Madan, T. N. (1997) Modern Myths, Locked Minds. Secularism and Fundamentalism in India. New Delhi: Oxford University Press India, S. 278.

[6] Vgl. Nandy, Obituary, S. 16.

[7] Vgl. Concerned-Citizens-Tribunal (2002) Crime against Humanity. An Inquiry into the Carnage in Gujarat. Bombay: Anil Dhakar for Citizens for Justice and Peace, P. O. Box 28253, Juhu Post Office, Mumbai 400049, India.

[8] Vgl. die Untersuchungen Gille Tarabouts in Kerala: Tarabout, Gilles & Assayag, Jackie (1997) Altérité et Identité. Islam et Christianisme en Inde. Paris: Editions de l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales.

[9] Vgl. Nandys Studien zum gelebten Pluralismus in Cochin: Nandy, A. (2001) Time Warps. The Insistent Politics of Silent and Evasive Pasts. Delhi, Permanent Black.; Nandy, Ashis (2002) ‘Obituary of a Culture.’ In: Seminar Vol. 513(3) Special Issue: ‘Society under Siege. Symposium on the Breakdown of Civil Society in Gujarat,’ S. 15-22.

[10] Madan, Modern Myths, S. 278.

[11] Vgl. Yagnik, Achyut (2002) 'The Pathology of Gujarat.' In: Seminar Vol. 513(3) Special Issue: 'Society under Siege. Symposium on the Breakdown of Civil Society in Gujarat,' 19-22, insbes. S. 20 [conflict is always inauspicious]

[12] Nandy, Obituary, S. 15.

[13] Vgl. Nigam, Aditya. The Insurrection of Little Selves: The Crisis of Secular-Nationalism in India. New Delhi: Oxford University Press, 2006.

[14] Erst jüngst wurde dieses Thema in dem Film Rang de Basanti (‘Farbe des Frühlings’, ein Film von Rakeysh Omprakash Mehra) verhandelt und löste Kontroversen bis hin zur Sperrung einiger Szenen durch die indischen Zensurbehörden aus (Release 2006). Der Film verherrlicht die Opferbereitschaft der Nationalhelden im Kampf gegen die britischen Kolonialherren und löst bei einer Gruppe von Jugendlichen eine Überidentifikation mit diesen Helden aus, mit dem Unterschied, dass sie nun nicht gegen die Briten in den Kampf ziehen, sondern gegen Korruption und Misswirtschaft im eigenen Staat. Am Ende lassen sie sich zum Mord an dem korrupten Verteidigungsminister hinreißen und sterben im Kugelhagel der Polizei. Diese Tat stellt der Film nicht eigentlich in Frage, was ihm den Vorwurf der Gewaltverherrlichung eingebracht hat. Der Film ist aber aufschlussreich, gerade weil er sich zu einer solch extremen Aussage herbei lässt und damit zu einem Bekenntnis für die Errungenschaften des alle Minderheiten einschließenden säkularen Nationalismus herausfordert: Der nationale Konsens, der bald sechzig Jahre gehalten hat darf nicht Partikularinteressen geopfert werden, seien sie muslimisch, hinduistisch oder einfach nur korrupt-egoistisch, so die Message.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Islam in Südasien .

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