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Der Begriff der Zivilgesellschaft ist aus der heutigen entwicklungspolitischen Diskussion zu Recht nicht mehr wegzudenken. Neben Behörden sind nicht-staatliche Organisationen (NGOs) oft zu zentralen Partnern der bilateralen wie multilateralen Entwicklungszusammenarbeit geworden. Die Kooperation mit der Zivilgesellschaft soll sicherstellen, dass Maßnahmen von der Planung über die Umsetzung bis hin zur Nachbetreuung den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen.
In Pakistan beispielsweise arbeiten bilaterale Donatoren mit NGOs oder schaffen tripartite arrangements, in denen zusätzlich auch staatliche Ämter mitwirken. Das gilt ebenso für multilaterale Geber wie die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) oder das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Donatoren veranstalten beispielsweise Workshops, um mit Vertretern der Zivilgesellschaft Zusammenarbeit auszuhandeln oder Positionen zu aktuellen Programmen einzuholen. So lud etwa die ADB zu einer Tagung in Islamabad diverse Organisationen ein: Action Aid Pakistan, LEAD Pakistan, Aga Khan Foundation, National Rural Support Programme, Trust for Voluntary Organisations (TVO) und Khewendo Kor.
Dass die ADB den Kontakt zur pakistanischen Zivilgesellschaft sucht, ist begrüßenswert. Doch wie pakistanisch ist der genannte Teilnehmerkreis? Action Aid hat das Hauptquartier in Johannesburg. Die Aga Kahn Foundation und LEAD sind internationale Akteure. Das National Rural Support Programme gibt es nur dank einer staatlichen Initiative, und der TVO resultierte aus dem Engagement von USAID. Nur Khewendo Kor, welche sich mit Frauenfragen befasst, wurzelt in der eigentlichen pakistanischen Zivilgesellschaft.
Ähnlich sieht es oft auch auf regionaler und lokaler Ebene aus. Bespielsweise hätte ein vor allem von der ADB unterstütztes Programm zur Reform des Forstsektors in der Nordwestprovinz gern Vertreter der Zivilgesellschaft als Mittler zwischen staatlichem Forstamt und der Lokalbevölkerung genutzt. Doch laut den beteiligten internationalen Experten war die Zivilgesellschaft in den abgelegenen Berggebieten noch zu schwach ausgebildet. Entsprechend identifizierten sie nur wenige für das Vorhaben relevante Gruppen. Eine davon wurde inzwischen auch noch von anderen Donatoren entdeckt und ist in der Folge schnell gewachsen. Aus einem kleinen Verein umweltinteressierter, ehrenamtlich tätiger Lehrer namens Environmental Protection Society (EPS) wurde eine Organisation mit eigenem Verwaltungsgebäude und Vollzeitangestellten.
Die Geber wären auf der Suche nach zivilgesellschaftlichen Akteuren erfolgreicher, wenn sie sich diese Arbeit nicht so leicht machen würden. Zwar arbeiten Sozialwissenschaftler mit verschiedenen Definitionen von "Zivilgesellschaft", doch entwicklungspolitisch ist die folgende vom Institute for Development Studies (IDS) in Sussex generell akzeptiert: "An intermediate realm situated between state and household, populated by organised groups or associations which are separate from the state, enjoy some autonomy in relations with the state, and are formed voluntarily by members of society to protect or extend their interests, values or identities."
Wenn Forscher diese Definition auf die Bergregionen Nordwestpakistans anwenden, ohne dabei gleich geeignete Partner für bestimmte Projekte zu suchen, erkennen sie schnell die genannten households. Familien betreiben auf kleinen Grundstücken Landwirtschaft, haben davon aber kaum ein Auskommen. Deshalb migrieren viele Männer, um Arbeit zu finden. Das Geld, das sie zurückschicken, hat wachsende Bedeutung für die örtlichen Lebensunterhaltsstrategien.
Die Suche nach dem state fällt etwas schwerer. Als Idee ist der Staat Pakistan allen bewusst. Doch wie und von wem wird der Staat lokal repräsentiert? In den Dörfern finden wir nur wenige Schulen, die Lehrer sind oft abwesend. Auch Kliniken oder Spitäler sind rar und befinden sich oft in einem schlechtem Zustand. Der staatliche Landwirtschaftsberater betreut ein riesiges Gebiet und erreicht nur einen Bruchteil der Höfe. Ämter für die Administration von Ausweisen, Grundbüchern oder Rechtsfragen gibt es in den regionalen Städten, doch der Zugang zu diesen staatlichen Stellen ist oft schwierig.
Folglich muss der soziale Raum zwischen Haushalten und Staat groß und bedeutend sein. Bei näherem Hinschauen finden Forscher denn auch viele organised groups or associations. Wichtig etwa sind die Ältestenräte (Jirgas). Wenn lokale Konflikte zwischen Haushalten oder gar zwischen Dorffraktionen entbrennen, setzen sich die einflussreichen Männer im Kreis zusammen und suchen nach Lösungen. Sie orientieren sich dabei an den ortsüblichen Regeln und Normen. Erwähneneswert ist auch das alte Konzept der reziproken Unterstützung (Ashar), das oft freitags in der Moschee ausgehandelt wird. Aber es formieren sich auch Berufs- oder Interessengruppen über Dörfer hinweg, "to protect or extend their interests, values or identities."
So gibt es etwa einen Verein der Sägereibesitzer. Holz ist ein wichtiger Rohstoff, die Verarbeitung schafft Arbeitsplätze und damit Einkommen. Die Vorschriften des staatlichen Forstamtes sind strikt, nur wenige Sägereien haben eine offizielle Lizenz. Doch die Holznachfrage ist groß, deshalb gibt es viele weitere Betriebe in diesem Sektor. Deren Besitzer haben sich organisiert, um ihre Interessen gegenüber dem Staat zu vertreten. Streng rechtlich gesehen, sind sie und ihr Verband aber illegal.
Die Sägereibesitzer haben schon Allianzen mit anderen Gruppen und sogar politischen Parteien gebildet. Es gab friedliche Demonstrationszüge. Die Verantwortlichen kamen deshalb ein paar Tage lang ins Gefängnis. Die internationale Gebergemeinschaft nimmt das aber kaum wahr und tritt mit "Kriminellen" nicht in Kontakt. Dabei spielen die Sägereibesitzer in den Bergen für die Zukunft der regionalen Forstwirtschaft wohl eine wichtigere Rolle als internationale NGO-Vertreter in Islamabad.
Ein zweites Beispiel: Viele Menschen sind mit der pakistanischen Justiz unzufrieden. Die Gerichte sind in den Städten, Verfahren ziehen sich oft über Jahre hin. Das verursacht besonders für die Landbevölkerung immer wieder Kosten für Anwalt und Anfahrt. Deshalb entstand eine Protestbewegung. Sie suchte Alternativen zur als ineffizient erlebten staatlichen Rechtsprechung und orientierte sich dabei an lokalen values or identities – also der traditionell-islamischen Rechtsprechung. Eine Organisation mit dem Namen Tehreek-e-Nafaz-e-Shariat-e-Mohammadi (TNSM) entstand. Einige Hitzköpfe legten sich mit der Polizei an, es gab Tote. Der Staat hat TNSM schnell als terroristisch eingestuft und verboten.
Mit der Strategie von TNSM sind auch viele lokale Gruppen, Vereine und Interessenverbände nicht einverstanden, aber auch diese knüpfen ihrerseits oft an lokalen Werten und Identitäten an. Doch das Thema ist für die Gebergemeinschaft tabu, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gilt es schließlich, den Fundamentalismus zu bekämpfen.
Es ließen sich noch weitere Beispiele dafür ausführen, dass es im pakistanischen Bergland durchaus eine Zivilgesellschaft im Sinn der IDS-Definition gibt, dass die Gebergemeinschaft diese jedoch nicht wahrnimmt. Zwei wichtige Schlüsse lassen sich aber jetzt schon ziehen:
Die Zivilgesellschaft lebt. Den sozialen Raum zwischen Haushalt und Staat bevölkert auch in den abgelegenen Bergregionen Pakistans eine Vielzahl von Zusammenschlüssen, Vereinen und Interessengruppen.
Die Zivilgesellschaft gibt es nicht. Der soziale Raum zwischen Haushalt und Staat widerspiegelt nicht eine homogene (und unpolitische) Interpretation von Werten und Interessen, welche für die lokale Entwicklung und Identität wesentlich sind.
Es überrascht nicht wirklich, dass unterschiedliche Interpretationen von lokalen Werten, lokaler Identität und damit auch Wegen zu Veränderung und "Entwicklung" miteinander konkurrieren. Es stehen unterschiedliche Vorstellungen von Moderne und Fortschritt zur Debatte. Mit anderen Worten: auch in der Nordwestprovinz wird Globalisierungskritik geübt. So postulieren etwa lokale Vertreter der Muttahida Majlis-e-Amal (MMA), der in der Nordwestprovinz regierenden Koalition religiöser Parteien: "There is a wide difference between western cultures and Islamic cultures and the NGOs should give priority to the latter. (... help should be extended) to all those welfare bodies who wanted progress of the country and its standing on its own feet."
Die Frage ist also, warum fast alle der skizzierten zivilgesellschaftlichen Entitäten nicht in Programmen und Projekten der Entwicklungszusammenarbeit erscheinen. Vielleicht hat das ganz einfache Gründe. Einer könnte sein, dass kaum eine der genannten Gruppen einen attraktiven englischen Namen hat, der die gängigen Schlagworte des internationalen Entwicklungsdiskurses aufgreift oder gar zu einer eingängigen Abkürzung taugt.
Ein komplexerer Grund liegt in normativen – und häufig nicht explizit thematisierten – Vorstellungen. An sich plädieren alle Donatoren für Mitwirkung, die Achtung lokaler Werte und Traditionen und die Berücksichtigung lokaler Interessen. Doch gerade in einem muslimisch geprägten Kontext wie Pakistan führt diese Absichtserklärung zu großer Verunsicherung. Lokale Formen der Konfliktlösung (Jirga) werden schnell als veraltet und autoritär kategorisiert. Wer mit dem Staat in Konflikt steht, gilt schlicht als illegal. Am Islam orientierte Kreise werden als fundamentalistisch abgehakt.
Übrig bleiben dann die Lehrergruppe mit ihrem englischen Namen und die Einschätzung, die richtige Zivilgesellschaft müsse erst noch entwickelt werden – und zwar von außen. Dazu dient beispielsweise, einheimisches Projektpersonal nach Ende eines regulären Vorhabens unter anderem Titel weiter zu finanzieren. Eine andere Option ist, lokale Filialen internationaler NGOs zu "endogenisieren". Mit authentischer zivilgesellschaftlicher Partizipation hat das aber nur wenig zu tun.
Vermutlich käme mehr dabei heraus, wenn sich die Geber tatsächlich auf lokale Interessen und Entwicklungsvorstellungen einließen. Dafür müssten sie genauer hinsehen, ideologische Grenzen in Frage stellen und die bereits existente Zivilgesellschaft ernst nehmen. Donatoren sollten sich mit der Heterogenität dieser Zivilgesellschaft auseinander setzen, um anschließend transparent zu begründen, warum sie bestimmte Gruppen als Partner für Entwicklung auswählen (und andere nicht) – und welche Art von Entwicklung sie dabei im Sinn haben.
Quelle: Der Artikel erschien in der Ausgabe 08-09/2006 der Zeitschrift E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit.
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